TOP 08.07.2004 - Zwei Superzellen ziehen über den Seerücken

Zunächst ein kurzer Überblick über die Region in der ich chasen war. Die roten Punkte bezeichnen die Fotostandorte.



Gespannt verfolgte ich nach 13:00 Uhr die Entwicklung der Zellen am Radar. Anhand der Dopplerbilder war klar, dass es sich um Superzellen handeln musste. Die Taupunkte bewegten sich hier anfangs um 16°C. Gegen 15 Uhr wurde die hohe Bewölkung immer dichter und die Sonne verschwand langsam. Dafür nahm die Luftfeuchte weiter zu, der Taupunkt stieg auf über 17°C. Nach Westen hin verfärbte sich der Himmel bleigrau, wegen der gewaltigen Superzelle, welche knapp nördlich des Unter- und Überlingersees vorbeizog. Die Windscherung war von Auge gut erkennbar. Hier war es praktisch windstill. Aus Osten wurden tiefe Stratuswolken von der Zelle angesaugt. Sie zogen erstaunlich schnell über den Himmel, natürlich auch weil sie so tief waren. Das war wahrscheinlich der Inflowbereich der „Stockacher“ Superzelle. Darüber sah man Altocumulus mit hoher Geschwindigkeit aus SW über den Himmel ziehen. Um 15:00 Uhr habe ich noch das letzte Radarbild betrachtet, dann ging’s los. Ich fuhr auf den Ottenberg, von wo man eine gute Aussicht Richtung Westen hat. Als ich um 15:15 Uhr dort oben angekommen bin, sah man bereits das anrollende Gewitter. Es war fast still, nur das leise, fast andauernde Grummeln der Wolkenblitze war zu hören. Es war eine seltsame Stimmung. Linienblitze konnte ich bei dieser Zelle nicht einen einzigen beobachten. Das ist mir bei Hagelgewittern schon öfters aufgefallen.

Standort Ottenberg mit Blick Richtung WSW auf den Wellenberg. 15:21 Uhr. Man sieht links von der Mitte die Wolken des Updraft.



Eine eindrückliche Hagelwand zieht über das Thurtal. 15:21 Uhr. Links über dem Wellenberg scheint der Hagel dichter zu sein.



Nochmals die aufziehende Zelle mit dem vorgelagerten Aufwindbereich. 15:21 Uhr.



Der Hagelvorhang legte sich übers Thurtal und zog langsam über den Wellenberg hinweg, wo er besonders dicht war. Südlich der Hagelwand war eine dunkle und sehr turbulente Wolkenbasis erkennbar. Dort vermutete ich den Aufwind der Mesozyklone. Meine Absicht war genau darunter zu kommen. Ich fuhr einige Kilometer nach Westen. Unterwegs sah ich, wie viele Leute nach draussen gingen und teils staunend, teils verängstigt das aufziehende Unwetter betrachteten. In der Gemeinde Berg stellte ich das Auto bei einer kleinen Tankstelle unter. Es wurde rasch dunkler und schon kam der Updraftbereich über den Ottenberg gerauscht. Dieser Hügel ist knapp 700 m hoch, die Wolkenbasis war nur knapp darüber. Die Wolkenunterseite war unglaublich turbulent. Man konnte unter dem rundlichen Updraftbereich eine starke Rotationsbewegung ausmachen, darin eingelagert kleinere Zonen mit Rotation. Ich vermute, dass es sich hierbei um die Unterseite der Mesozyklone handelte. Dann kam ein starker bis stürmischer konstanter Westwind auf, der RFD (Rear Flank Downdraft), während im Norden noch der Updraft sichtbar war. Das war schon etwas tornadoverdächtig. Kurz danach setzte der Hagelschlag ein. Zuerst kamen nur einzelne Körner herunter, dann setzte ein kurzer, kräftiger Hagelschlag ein. Die Körner waren nicht sehr gross und hatten einen Durchmesser von 1 bis 1,5 cm. Aber ich befand mich auch am südlichen Rand der Hagelzone. Weiter nördlich war der Hagelschlag wesentlich dichter. Man sah wie der Hagel vom kräftigen Downdraft über die Felder gepeitscht wurde, fast wie bei einem Schneesturm. Der Hagelschlag war hier nach einer Minute bereits wieder vorüber und ging in sehr kräftigen Regen über. Doch auch dieser liess rasch wieder nach. Die gesamte Starkniederschlagsphase dauerte hier gerade 3 Minuten.

Standort Berg. 15:34 Uhr. Hier befinde ich mich direkt unter der Meso. Erste Hagelkörner fallen vom Himmel.



Blick Richtung N. 15:36 Uhr. An meinem Standort geht der Hagel bereits in Regen über, während wenige hundert Meter nördlich noch dichter Hagel fällt.



Ich entschied mich nun nach Norden zu fahren. Der Westwind blies immer noch stark, so dass man das Steuer gut festhalten musste. Weiter nördlich regnete es wieder sehr kräftig. Man sah am Strassenrand ab und zu Hagelansammlungen. Bei Siegershausen bog ich nach rechts ab und fuhr in östliche Richtung weiter. Man sah, dass der Hagelschlag hier deutlich stärker gewesen sein muss. Es hatte überall Blätter und kleine Äste auf der Strasse. Ausserdem sind bei einzelnen Obstbäumen teils grössere Äste abgebrochen.
Oberhalb von Altnau hielt ich nochmals an um Fotos von der anziehenden Superzelle zu schiessen. Immer wieder waren Overshooting Tops zu sehen, manchmal mehrere nebeneinander. Der Updraft war an der SE-Seite der Zelle. Noch immer blies ein kräftiger, kühler Wind, der durch den Downdraft verursacht wurde. Als ich zufälligerweise nach Süden sah, fiel mir eine ungewöhnliche Wolke auf. Sie zog mit sehr hoher Geschwindigkeit im RFD. Die tiefbasige Wolke bekam noch etwas Hebungsimpuls durch den Seerücken, denn dort war sie am besten ausgebildet. An der zerfetzten Unterseite konnte man starke Geschwindigkeitsscherung erkennen. Die aufsteigenden Fetzen wurden durch die Scherung sofort quer gestellt und dann in die Wolke eingedreht. Man konnte mehrmals beobachten, wie sich Ansätze von Funnel Clouds ausbilden konnten, jedoch gleich wieder zerfetzt wurden. Meine Vermutung ist, dass die Geschwindigkeitsscherung im Verhältnis zur Richtungsscherung einfach zu gross war, um einen richtigen Funnel zu verursachen. Die Wolke löste sich dann bald wieder auf. Ich beobachtete noch eine Weile die abziehende Zelle und begab mich dann auf den Rückweg. Selbst eine Stunde später waren noch Hagelansammlungen am Strassenrand zu sehen.

Standort Altnau mit Blick Richtung Süden. 15:53 Uhr. Man sieht die Wolke welche funnelartige Strukturen an der Unterseite ausbildete.



Diese Wolkenformationen waren aber zerfetzt und sehr kurzlebig. 15:54 Uhr.




Blick Richtung Nordosten. 16:09 Uhr. Abziehende Superzelle. Das Dorf im Vordergrund heisst Altnau. Auf der anderen Seeseite liegt Friedrichshafen.



Der gewaltige Overshooting Top! 16:09 Uhr.



Hier habe ich die Bilddynamik erhöht, damit die Zelle noch etwas plastischer wirkt. 16:09 Uhr.



Eine Stunde nach dem ersten Hagelschlag sind noch immer Hagelansammlungen zu sehen. 16:30 Uhr.



Ich fuhr nun Richtung Westen bis nach Alterswilen/Ellighausen, wo vor mir plötzlich ungewöhnliche Wolkenformationen auftauchten. Der Horizont wurde langsam dunkel, während bei mir noch die Sonne schien. Aus dem Wald stiegen Wolkenfetzen auf, jedenfalls hielt ich es zuerst dafür. Sonst waren aber weit und breit keine Wolken- oder Nebelfetzen über den Wäldern. Der starke Wind hinter der Zelle und der Sonnenschein hatten die Luft bereits etwas abgetrocknet. Plötzlich bildete sich eine Säule von unten nach oben, die sich leicht hin und herwindete. Ich war völlig überrascht, denn ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal, dass eine zweite Superzelle hierher unterwegs war. Ich fuhr so schnell als möglich an den Strassenrand und rannte etwas die Böschung hinauf. Da es sich meiner Meinung nach klar um einen schwachen Tornado handelte, rief ich Willi Schmid an. Er informierte mich dann auch über die kurzfristige Wetterentwicklung. Das Teil hatte sich zu diesem Zeitpunkt wieder grösstenteils aufgelöst. Ich schaute Richtung WSW. Nur direkt über dem Wald konnte ich noch Fetzen beobachten, die sich rasch verformten. Ob sie wirklich rotierten, konnte ich aus dieser Entfernung nicht mit Sicherheit beurteilen. Zu diesem Zeitpunkt wehte an meinem Standort ein schwacher Ostwind. Darüber muss er wesentlich stärker gewesen sein, wie man an den tiefen Stratusfetzen über dem Seerücken erkennen konnte. Während ich so beobachtete regenerierte sich der schmale Rüssel im unteren Bereich noch mal etwas. Was ich wegen dem Gegenlicht nicht erkennen konnte, ist, wo der Tornado an der Wolke angemacht war. Ich vermute, es war oben links. Es gab keine Ausbuchtungen an der Wolkenunterseite oder sonst einen Hinweis, nur ein paar sonderbare Wolkenfetzen vorne an der Wolke. Etwas später bildete sich von mir aus gesehen links (südlich) noch ein zweiter Rüssel, der auf der ganzen Länge, jedoch nur schwach auskondensiert war und deswegen fast keinen Kontrast zum Hintergrund hatte. Der Beobachtungszeitpunkt war um 16:35 Uhr. Seltsam finde ich, dass die Gewitterzelle zu diesem Zeitpunkt noch recht weit entfernt war. Einen direkten Zusammenhang mit der Superzelle kann es folglich nicht geben. Ich denke, es handelte es sich um Landspouts. Ob die Bedingungen dafür gegeben waren, kann ich aber nicht beurteilen.

Standort Alterswilen mit Blick Richtung WSW. 16:36 Uhr. Der sich auflösende Tornado regeniert sich noch mal ein wenig. Ich glaube aber nicht, dass man anhand dieses Bildes den Tornado verifizieren kann.



Da der Standort für Beobachtungen nicht optimal war, fuhr ich weiter Richtung Westen. Die zweite Superzelle näherte sich nun und der Himmel verdunkelte sich rasch. Ich sah aus dem fahrenden Auto, dass die Wolkenstrukturen sehr interessant waren, konnte die Entwicklung aber nicht gut verfolgen, da ich mich auf die Strasse konzentrieren musste.
Kurz vor Engwilen steigt Strasse in einer weiten Linkskurve nochmals leicht an und es hat hohe Bäume an der Seite, so dass man noch fast nichts von der SZ sehen konnte. Dann lichtet sich der Wald und es folgen weite, ebene Felder, durch die eine kerzengerade Strasse führt. Was sich mir dort offenbarte, war einfach fantastisch. Vor mir erstreckte sich eine wunderschöne und gewaltige „Mothership“-Meso über den ganzen Horizont und dahinter war eine weisse Wand aus Hagel. Unter der Meso zuckten immer wieder Linienblitze. Wie ein Keil schob sich der untere Teil der Wolke nach vorne. Darüber war etwas nach hinten versetzt der riesige Updraft sichtbar und ganz oben befand sich der sehr strukturierte Wolkendeckel. Die Wolkenunterseite war violett-schwarz. Die Umgebung war in ein diffuses, violettes Licht getaucht. Das Licht kam durch die Hagelzone flach herein und wurde durch die Körner gebrochen. Die ganze Szenerie wirkte auf mich schon fast surreal. Sowohl nördlich, als auch südlich von mir, war an der Wolkenunterseite starke Rotation beobachtbar! Die Superzelle sah sehr tornadoverdächtig aus! Etwas später rief mich dann mein Bruder an und meinte auch, dass er noch nie solche Wolkenrotation gesehen habe. Ich fuhr noch etwas weiter auf den Seerücken, von wo aus man noch eine bessere Aussicht hatte. Der Hagelzug erstreckte sich vom Wellenberg über das ganze Thurtal und den Seerücken bis hin zum Schiener Berg. Er hatte also eine Breite von fast 20 Kilometer! Nun kam ich in den Bereich des Updrafts. Die Wolkenunterseite war wieder sehr tief und turbulent. Ich schätze die Basis auf ca. 900 m. Dahinter sah man die Hagelvirgae, welche wegen dem Licht von hinten sehr schöne Strukturen aufwiesen. Kurz danach setzte der Hagel ein. Zuerst knallten einzelne Körner mit einer hohen Geschwindigkeit gegen die Autoscheibe. Sie hatten einen Durchmesser von 3 bis 3,5 cm. Dann verstärkte sich der Hagel langsam. Als es dann richtig loslegte, hatten die Körner noch einen Durchmesser von 2 bis 3 cm. An den Hagelvirgae konnte man gut die unterschiedlich Dichte des Hagelschlags erkennen. Der Hagel kam in Nord-Süd verlaufenden Streifen dicht und schubweise herunter. Etwas nördlich und südlich von meinem Standort schien der Hagelschlag sogar noch kräftiger gewesen zu sein. Der Hagel dauerte knapp 5 Minuten an. Danach regnete es noch kurz und kräftig. Ich verfolgte die Zelle noch etwas, doch das Beste war vorbei. Die umliegenden ca. 700 m hohen Hügel waren nach dem Unwetter alle in Wolken gehüllt.

Standort Engwilen mit Blick Richtung Westen. 16:45 Uhr. Die Bilder geben die Atmosphäre leider nur schlecht wieder. Man benötigte ganze 3 Weitwinkelaufnahmen um die ganze „Mothership“-Meso zu erwischen. Die tiefen Wolken rechts unten zeigen den starken Inflow der Superzelle an.



16:45 Uhr. Bombastische "Deep Convergence Zone"!



Standort Helsighausen mit Blick Richtung SW. 16:49 Uhr. Der Hagelvorhang nähert sich.



Blick Richtung NW. 16:56 Uhr. Während des Hagelschlags.



Blick Richtung W. Einsetzender Hagel.

Hagelvideo (4 MB)

Fazit: Dieses Chasing war mit Abstand das Beste, das ich bisher gemacht habe. Vor allem die „Mothership“-Meso hat mich tief beeindruckt. Die Verhältnisse schienen rein subjektiv mit den Unwetterlagen im mittleren Westen der USA vergleichbar.

Das erste Gewitter erreichte eine Höhe von 13 km, das zweite noch ca. 11,5 km. Dafür traten bei der zweiten Zelle stärkere Niederschläge auf, wie auch anhand der Radarbilder festzustellen ist. Die Gewitter schienen nicht besonders hochreichend zu sein, was für eher niedrige CAPE-Werte spricht.

Offensichtlich besteht ein wichtiger Zusammenhang zwischen der Höhe von CAPE-Werte und dem Auftreten von Tornados. Werden die Randbedingungen für Superzellen knapp erfüllt, sind Tornados trotzdem unwahrscheinlich. Am 8.7.04 waren aus meiner Sicht ausser CAPE alle Randbedingungen für signifikante Tornados erfüllt, sogar die Low Level Shear. Es scheint bei uns relativ selten der Fall zu sein, dass alle Bedingungen erfüllt werden. Am ehesten werden scheinbar im Jura diese Kriterien erfüllt. Wahrscheinlich ist die Low Level Shear dort in vielen Fällen höher als im Mittelland, das ist aber nur eine Vermutung.

Fehlendes CAPE könnte die Hauptursache für die wenigen Tornados im Schweizer Mittelland sein. Das müsste man vielleicht genauer untersuchen. In Gebieten, welche häufiger von starken Tornados heimgesucht werden, misst man oft CAPE-Werte über 1000 J/kg, ab und zu sogar mehrere 1000 J/kg. In Europa werden annähernde Werte vor allem im subtropischen Süden und kontinental geprägten Osten erreicht. Vor allem in Spanien und der Poebene scheinen starke Tornados häufiger zu sein als bei uns. Aus dem Osten fehlen leider die Aufzeichnungen.

Auch wenn der Klimawandel keinen direkten Einfluss auf Tornados hat, so stellt sich mir doch die Frage, was eine Verschiebung der Klimazonen nach Norden z. B. für einen Einfluss auf theoretische CAPE-Werte hat. Die Erwärmung im Sommer soll bei uns überdurchschnittlich stark ausfallen und das Klima wird sich wahrscheinlich den mediterranen Verhältnissen annähern. Das kann nur durch eine Häufung von S- oder SW-Winden verursacht werden. Man muss fast annehmen, dass solche Lagen, wie die vom 8. Juli häufiger werden, wobei das reine Spekulation ist und auch bleiben wird. Interessanter ist die Frage, ob es eine Korrelation zwischen CAPE und dem bisherigen Temperaturanstieg gibt. Wenn dem so ist, könnte man daraus tatsächlich auf eine zukünftige Häufung von Tornadoereignissen schliessen. Ich werde mich diesen Sommer mal daran machen und das statistisch genauer untersuchen.

Schäden

Auffällig ist, dass die beiden Superzellen kaum Windschäden verursacht haben. Selbst Weizenfelder, die eine geringe Sturmtoleranz haben, wurden kaum niedergelegt. Dafür sprechen auch die Windmessungen meiner Wetterstation in Ermatingen. Kurz vor 17:00 Uhr wurde die stärkste Böe mit 54 km/h (8-Sekunden-Mittel) registriert. Das liegt noch weit unter der Schadensgrenze von 75 km/h. In erster Linie gibt es Schäden an landwirtschaftlichen Kulturen durch Hageleinwirkung. Die verheerenden Hagelschäden treten in Schneisen mit einer Breite von maximal 2 km auf, vor allem dort wo der Hagelschlag nicht mit Regen vermischt war.

In einem Kornfeld sind jedoch interessante Windschäden aufgetreten. An der Westseite des Feldes wurde der Weizen zum Teil in entgegengesetzter Richtung niedergelegt. Die Schäden bewegen sich im F0-Bereich. Anhand der Schäden kann man einen allfälligen Landspout nicht verifizieren. Die Verwirbelung könnte in der Nähe der Waldecke auch durch eine gewöhnliche Windböe verursacht worden sein.

Karte 1:50'000 mit Aufnahmebereich und Schadenstelle


 

Skizze 1:5'000, ein Kasten hat 500 m x 500 m


 

Detailskizze